Lisa Brennauer im TOUR-Interview: “Das Lob hat mich berührt” | TOUR

2022-11-15 15:57:20 By : Ms. ping xiao

Bei den European Championships hat Lisa Brennauer ihre Karriere beendet. Sie ist eine der erfolgreichsten Radsportlerinnen Deutschlands. Im TOUR-Interview steht sie Rede und Antwort.

Lisa Brennauer gewann bei den European Championships Gold in der Mannschaftsverfolgung, Silber in der Einerverfolgung, erreichte einen vierten Platz im Straßenrennen und einem zwölften im Zeitfahren.

Wir klingeln Punkt neun Uhr, wie vereinbart. Lisa Brennauer öffnet die Tür zu ihrer Zweizimmerwohnung am Ortsrand von Durach. Es ist der Dienstag nach ihrem letzten Rennen, der Straßen-Europa­meisterschaft in München, mit der sie ihre lange Radsportkarriere beendet hat. Die 34-Jährige trägt Jeans, T-Shirt und Socken - und macht uns erst mal Cappuccino.

Die Wohnung von Lisa Brennauer ist voll mit Devotionalien aus ihrer großen Karriere. Im Regal hinter Glas die wichtigsten Medaillen: WM, EM, DM, Olympia - “nur die seit 2019”, sagt sie lapidar, “es sind ja noch viel mehr”. Besonders eindrucksvoll ist die große, runde, mehr als 500 Gramm schwere Olympiamedaille, die in einem mit Samt ausgekleideten Kästchen liegt. An der Zimmertür hängt ein Trikot der Deutschen Meisterschaft auf einem Bügel, über der Stuhllehne liegt das neueste Europameistertrikot von der ­Mannschaftsverfolgung. Die Wände zieren gerahmte Weltmeister- und Europameistertrikots samt Me­dail­­len, ein bunter Streifen in WM-Farben durchzieht auf Augenhöhe eine Wand (“habe ich selbst gemalt”).

Und in einer Schublade lagern die Silberne Ehrennadel des Bundes­präsidenten, der Bayerische Verdienstorden und ein Ehrenkreuz der Bundeswehr. Hinter dem Esstisch lehnt das Stück Holz von der Radbahn, das Brennauer zum Abschied in München bekommen hat, daneben ein Spiegel, gerahmt von einem Laufrad, mit den Unterschriften ihrer Kolleginnen aus dem Nationalteam. Auf dem Tisch Karten, Briefe, Blumen ...

Olympiasiegerin mit dem Bahnvierer 2021, 30 Medaillen bei Welt- und Europameisterschaften, davon 13-mal Gold; 14-mal Deutsche Meisterin; 8 Rundfahrtsiege, darunter zweimal Thüringen-Rundfahrt; 25 Etappensiege; Zweite Gent-­Wevelgem 2016; Zweite Flandern-Rundfahrt 2021; Vierte Paris-Roubaix 2021

TOUR: Wie geht es Ihnen nach diesen zwei intensiven Wochen in München?

Lisa Brennauer: Als ich heute früh aufwachte, wusste ich nicht, wo ich bin und welches Radrennen heute ist. Bis ich realisiert habe: Du hast gar kein Rennen mehr, nicht mal mehr Training! Das fällt mir nicht so leicht - und fühlt sich gleichzeitig gut und richtig an. Ehrlich gesagt, hätte ich das Karriereende nicht besser wählen können.

TOUR: Wie haben Sie die European Championships erlebt?

Brennauer: Das waren besondere Emotionen, ein ständiges Auf und Ab: Man wird Europameister und feiert gleichzeitig Abschied, will aber am nächsten Tag wieder um einen Titel in einem Rennen kämpfen, das wieder ein letztes Mal wird. Vier Abschiedsrennen zu machen, war nicht die einfachste Wahl. Aber es war schön, dass ich all meine Lieblings­disziplinen noch mal fahren konnte. Und vor allem vor dieser Kulisse, mit Tribünen voll bis oben hin! Wie die Menschen das gefeiert haben, wie viele wegen mir gekommen sind! Sogar nach dem Zeitfahren mit dem superschlechten zwölften Platz kamen die Leute zu mir und haben geklatscht. Da hab’ ich realisiert, dass es denen nicht darum geht, ob ich gewinne oder nicht, die sehen die Person dahinter. Das fand ich so cool.

TOUR: Konnten Sie sich während der Rennen noch mal auf den Sport fokussieren? Oder haben Sie ständig gedacht: Das ist nun das letzte Mal?

Brennauer: Im Straßenrennen fiel es mir am leichtesten, aber auch im Vierer war es einfach, denn da hat man Verantwortung für andere: Wir fahren mit 60 km/h am Hinterrad, jeder Wechsel muss sitzen. Richtig bewusst wurde es mir in der Einerverfolgung, als ich am Start stand und die Maschine runtertickte. Dieses Piepsen ist so ein markantes Geräusch - die meisten hassen das, weil sie den Druck nicht mögen. Ich habe das immer geliebt. Da stand ich, habe das Piepsen gehört - und musste grinsen. Ich wusste, das ist das letzte Mal, aber das war ein total positives Gefühl.

TOUR: Zum Karriereende wurden Sie mit Lob überschüttet. Konnten Sie das annehmen?

Brennauer: Das hat mich berührt, das habe ich so nicht erwartet. Mir war nicht bewusst, was ich für viele Leute bedeute - für manche Sportler oder Betreuer, aber auch für Leute außerhalb des Sports. Wie die zum Beispiel meinen Anteil an der Entwicklung des Frauenradsports sehen. Das ist schön. Ich kann das schon annehmen. Nur frage ich mich, warum ich das früher nicht gecheckt habe. Ich bin schon selbst­bewusst, aber ich glaube, dass ich manchmal meinen Einfluss auf andere unterschätzt habe - auch auf junge Sportler. Ich hätte vielleicht noch viel mehr bewirken können.

TOUR: Ihre frühere Teamkollegin Trixi Worrack hat Sie dafür gelobt, dass Sie abseits der Rennen richtig feiern können, zum Beispiel in Rio.

Brennauer: (lacht) Sie meint die Feier nach den Olympischen Wettkämpfen im Deutschen Haus. Da haben wir Gas gegeben.

TOUR: Wie muss man sich das vorstellen, wenn Sie Gas geben?

Brennauer: Na, dann tanze ich. Ich kann eigentlich nicht besonders gut tanzen, aber das macht mir nix - dann spring’ ich halt über die Tanzfläche. Ich bin auch eine, die nicht um eins nach Hause drückt. Wenn ich mal drin bin, ist es schwer, mich wieder runterzubekommen von der Tanzfläche.

TOUR: Wie war die Abschiedsparty nach der EM?

Brennauer: Voll schön. Wir wollten einen gemütlichen Abend haben, weil viele danach zum Wettkampf reisen mussten. Dafür hatten wir in einem Restaurant in Landsberg einen riesigen Tisch reserviert, für uns Fahrerinnen, Betreuer, aber auch für meine Freunde. Nach dem Essen waren wir in einer Bar, obwohl uns die Musik nicht so gefallen hat. Wir fragten, ob sie was anderes spielen könnten, worauf man tanzen kann. Das haben sie dann tatsächlich gemacht.

TOUR: Klingt nach einer lustigen Truppe.

Brennauer: Auf jeden Fall. Wir waren sowieso eine lustige Truppe. Wie cool, dass genau die vier vom Bahnvierer auch im Stra­ßen­rennen (bei der EM, Anm. d. Red.) fuhren - dazu Franzi (Koch), Liane (Lippert), Lin (Teutenberg) und Romy Kasper, mit der ich schon in der Jugend im Trainingslager war. Das hat man auch im Straßenrennen gemerkt, dass das eine Gruppe ist, die nicht nur auf dem Rad harmoniert.

TOUR: Radsport ist ja beides: Einzel- und Teamsport. Es gibt reine Einzelwettbewerbe, echte Teamwettkämpfe, aber vor allem Rennen, bei denen man zwar im Team antritt, am Ende aber doch nur eine auf dem Podium steht. Wie ging es Ihnen in diesem Spannungsfeld?

Brennauer: Ich habe mich immer mehr als Teamsportlerin gesehen, die auch Einzeldisziplinen macht, als umgekehrt. Ist es ein Spannungsfeld? Es gibt sicher Situationen, in denen man sich fragt, ob die Teamkollegin wirklich alles gegeben hat oder selbst noch versucht hat, in die Top Ten zu kommen. Wenn aber jeder in so einem Teamkonstrukt zum richtigen Zeitpunkt seine Chance bekommt und die dann auch wahrzunehmen weiß, ist es ein Geben und Nehmen.

TOUR: Also muss man das Spannungsfeld steuern?

Brennauer: Voll! Da braucht es einen tollen Sportlichen Leiter, der das einzuschätzen weiß. Wann ist eine Fahrerin bereit, dem Druck ausgesetzt zu werden, dass eine Mannschaft für sie arbeitet? Und dann gibt es Fahrertypen, die blühen auf in ihrem Helferjob, mögen den Druck nicht, ein Rennen gewinnen zu müssen. Das gilt es zu erkennen und in so einem Teamkonstrukt richtig zu nutzen.

TOUR: Welche Rolle spielt die Teamkapitänin in dem Konstrukt?

Brennauer: Man kann als Leader Leute schon noch mehr motivieren, alles aus sich rauszuholen. Ich habe immer versucht klarzumachen, dass wir alle auf einer Stufe stehen und dass es ohne alle, die ihr Bestes für mich geben, am Ende für mich auch nicht reicht. Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt, ob Leute entscheiden, 100 oder 120 Prozent für einen zu geben. Für mich war das nie selbstverständlich. Und ich hoffe, dass andere Leader auch erkennen, dass es schon ein Stück weit problematisch ist, dass den Ruhm und das ­Podium immer nur einer abbekommt.

TOUR: Vor einigen Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, dass Sie sich die Leaderrolle selbst noch nicht so zugetraut haben.

Brennauer: Das war auch so. Klar, ich war Junioren-Weltmeisterin (2005), aber es hat noch Jahre gedauert, bis ich in der Frauenklasse gut genug war, um zu gewinnen. Diese Phase hat mich total geprägt - denn ich war der Helfer, ich habe die Flaschen geholt. Als dann die Leaderin zum ersten Mal gesagt hat, dass ich eine super Helferin bin, hat mir das total viel gegeben.

TOUR: Wie kam es dann zur Kapitänsrolle?

Brennauer: Das werde ich nie vergessen - das war 2014, als das erste Mal das Frauenrennen La Course im Rahmen der Tour stattfand. Nach der Anreise sagte Ronny Lauke (Sport­licher Leiter bei Specialized-Lululemon) zu mir: “Lisa, wir fahren morgen für dich. Bist du bereit?” Ich sagte: “Ja, klar”, aber gedacht habe ich “Oh Gott!”. Ich wurde Vierte. Danach, im WM-Straßenrennen, in dem ich Zweite wurde, fuhr das erste Mal die Nationalmannschaft für mich. Dann kam 2015 und die vielen Erfolge. Aber ich war auch später noch Helferin. Bei einem Giro d’Italia brauche ich nicht der Leader sein, ich komme den Berg nicht hoch.

TOUR: Sie beschreiben sich als Perfektionistin, haben daher die Disziplin Zeitfahren geliebt, weil Sie da jedes Detail bestimmen konnten. In einem Team funktioniert das nur begrenzt. Wie hält man es aus als Perfektionistin, wenn andere vielleicht nicht so perfektionistisch sind?

Brennauer: (lacht) Das muss man manchmal ein bisschen ausblenden. Nicht jeder macht seine Startnummer mit den Nadeln von innen ans Trikot, weil das aerodynamischer ist als sie außen dranzupinnen. Manchmal muss man einfach akzeptieren, dass Leute unterschiedlich sind. Das ist ja auch toll so. Zum Beispiel bei meinem jetzigen Team Ceratizit, da habe ich Teamkolleginnen aus Mexiko, Spanien, Skandinavien, Deutschland - da ist allein der kulturelle Unterschied schon so groß. Mit Toleranz und Offenheit bekommt man das hin. Aber wenn ich kann, spiele ich auf jeden Fall die Perfektionisten-Karte (lacht).

TOUR: Und wenn alles passt, kommt Gold dabei heraus, wie jetzt mit dem Bahn­vierer in München. Da sind vier sehr unterschiedliche Fahrerinnen zu einer Einheit verschmolzen.

Brennauer: Wir haben eines gemeinsam: Dass wir so umschalten können. Wir haben Spaß, lachen, machen Unsinn, im Training singen Mieke (Kröger) und Franzi (Franziska Brauße) rum. Aber wenn es in den Wettkampf geht, sind wir absolute Wettkampftypen. Alle sind hammermäßig fokussiert, alle wollen gewinnen. Das ist der Schlüssel zum Erfolg - die Lockerheit auf der einen Seite, aber dann diese Konsequenz, was erreichen zu wollen. Da sind vielleicht auch ein paar Perfektionisten dabei (lacht).

TOUR: Als größten Erfolg nannten Sie früher immer die WM 2014, bei der Sie zweimal Gold und einmal Silber gewannen. Seit Tokio nennen Sie Ihren Olympiasieg mit dem Bahnvierer. Welche Momente sind für Sie sonst noch unvergesslich?

Brennauer: Herausragend für mich waren die European Champion­ships in Glasgow 2018. Dort habe ich das erste Mal international wieder Medaillen gewonnen - nach zwei Jahren, in denen ich nicht so erfolgreich war. Auch die Zeit mit Velocio-SRAM werde ich nie vergessen, als wir alle Rundfahrten gewonnen haben (2015). Wir waren damals das beste Team der Welt. Unvergesslich war auch die Phase nach dem Corona-Lockdown 2020: Als erstes Rennen bin ich Strade Bianche gefahren - im Sommer, bei 42 Grad. Ich war so gut, wurde Siebte - und das auf einem Kurs, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich da vorne reinfahren kann. Aber wir reden nur über Erfolge. Man erlebt so viel in dem Sport, schließt Freundschaften, macht tolle Reisen. Ich habe meinen Partner im Sport kennengelernt.

TOUR: Es gab auch schwierigere Phasen Ihrer Karriere: 2016, 2017 lief es nicht so - und Ihre Rückkehr auf die Bahn nach vier Jahren Pause endete zunächst mit Sturz und Armbruch. Woher kam die Krise?

Brennauer: Da kam vieles zusammen. Ich war sechs Jahre lang im gleichen Team, es war einfach Zeit für neuen Input, neue Ziele, neue Arbeitsweisen. Und ich glaube, ich habe auch zu viel von mir erwartet, mir zu viel Druck gemacht, zum Beispiel in Rio 2016. Ich wollte so viel unbedingt richtig machen, dass ich irgendwie alles falsch gemacht habe. So ist es nun mal im Leben: Mal schwimmt man oben, mal unten. Ehrlich gesagt, hatte ich sowieso kaum Rückschläge in meiner Karriere. Ich habe immer funktioniert. Da habe ich halt mal anderthalb Jahre nicht so gut funktioniert, obwohl ich immer noch gute Erfolge hatte - nur weniger, als man es von mir gewohnt war.

TOUR: Was haben Sie aus dieser Phase mitgenommen?

Brennauer: Das Siegen wieder zu schätzen. Die härteste Zeit ist die, in der es nicht so läuft - und man immer wieder gefragt wird, warum es nicht gereicht hat. Irgendwann habe ich erkannt, dass ich was ändern muss. Dann kam die große Veränderung: ein neues Team nach sechs Jahren (Wiggle High5) und ein neuer Trainer. Und dann saß ich das erste Mal nach vier Jahren (2017) wieder auf dem Bahnrad. Ich hatte vergessen, wie geil das war! Das Gefühl auf der Bahn, der Kurvendruck, die Geschwindigkeit - das hat mich sofort wieder gepackt. Ich glaube, das war der Funken, mit dem das Feuer wieder angefangen hat zu lodern. Dann kam dazu der Teamwechsel 2019 zu WNT (jetzt Ceratizit), wo ich alles bekommen habe, um mich wieder hochzu­arbeiten. In der familiären Umgebung habe ich mich wohlgefühlt und viele Freiheiten bekommen, auch die neuen Ziele auf der Bahn verfolgen zu können.

TOUR: Manche kommen nach Rückschlägen nicht mehr auf die Beine. Ist es Veran­lagung, wie gut man das verkraftet, wie man mit Druck klarkommt?

Brennauer: Ich denke, dass es ein Stück weit typabhängig ist, merke, dass Leute unterschiedlich mit Druck umgehen. Aber ich hatte ja nicht so viele gesundheitliche Probleme in meiner Karriere - das war schon ein Vorteil. Sich immer wieder hocharbeiten zu müssen, kostet schon enorm viel Kraft.

TOUR: Sie haben regelmäßig Unterstützung bei einem Mentaltrainer gesucht. Ist man dafür im Radsport inzwischen offener?

Brennauer: Ja. Generell ist die Gesellschaft offener dafür geworden, Probleme anzusprechen. Für Sportler ist das Wichtigste, sich einzugestehen, dass es ein Problem gibt, das man alleine nicht lösen kann, und sich Hilfe zu suchen.

TOUR: Das erste Mal haben Sie sich Hilfe geholt, weil Sie vor den Massenstarts beim Punktefahren auf der Bahn Angst hatten. Welche Probleme gab es später?

Brennauer: Es gab nie wieder so ein riesiges Problem wie damals, aber kleinere Baustellen, Dinge, die nicht so optimal liefen. Zum Beispiel hatte ich immer viel Respekt vor bergigen Rennen - daran haben wir gearbeitet. Oder in der Zeit rund um den Sturz gab es so eine Phase, in der ich alltäg­liche Dinge viel größer gemacht habe, als sie waren, was mich in meinem Sport beeinflusst hat.

TOUR: Eine schwierige Phase für alle war der Beginn der Pandemie 2020, der Lockdown und die Absage aller Wettkämpfe, darunter auch die Olympischen Spiele in Tokio. Wie sind Sie durch diese Zeit gekommen?

Brennauer: Als Olympia abgesagt wurde, brauchte ich eine Woche Pause. Ich musste erst mal damit klarkommen, dass das größte Event meiner Karriere ein Jahr später stattfindet. Mein Trainer, aber auch mein ganzes Umfeld, Familie und Freunde, waren eine große Stütze für mich in der Zeit - wie generell in meiner ganzen Karriere. Nach der Woche hatte ich es akzeptiert. Mein Trainer gab mir zu verstehen, dass wir jetzt Zeit haben, etwas aufzubauen, meinen großen Motor noch größer zu machen. Ich hatte viel Zeit für Krafttraining, habe viel Grundlage, aber vor allem ganz lange Intervalle trainiert, viel auf dem Zeitfahrrad.

TOUR: Das heißt, Sie konnten diese Zeit positiv gestalten?

Brennauer: Die ganze Corona-Situation in ihrer Schrecklichkeit war natürlich da, wie für jeden, auch die Ängste. Aber trotzdem war ich ja in einer Sportart, in der ich trainieren konnte. In Deutschland durfte ich überall hin mit meinem Fahrrad. Meine Kolleginnen in Italien, Spanien, Frankreich waren eingesperrt, die haben auf dem Balkon auf der Rolle trainiert. In der Zeit habe ich gelernt, wie schön Trainieren eigentlich sein kann, habe das Allgäu neu entdeckt. Und ich hatte sehr viel Zeit, Revue passieren zu ­lassen, was ich alles erreicht hatte in den Jahren davor. Das war eine wichtige Phase für mich.

TOUR: Sie hatten Olympia als großes Ziel, an dem Sie sich festhalten konnten.

Brennauer: Ich hatte viel Glück. Ich hatte auch keine Existenzängste wie andere im Sport - zum einen wegen der Bundeswehr, zum anderen auch durch mein Team Ceratizit, das uns Sportler weiterbezahlte. Das ist eine ganz andere Grundlage, als wenn du nicht weißt, womit du morgen die Miete bezahlen sollst. Manche hatten eine richtig schwere Zeit, das ist mir bewusst.

TOUR: Welches Rennen hätten Sie noch gerne gewonnen in Ihrer Karriere?

Brennauer: Einen großen Frühjahrsklassiker, Paris-Roubaix oder Flandern-Rundfahrt. Roubaix war eigentlich dieses Jahr noch ein großes Ziel, aber da hatte ich ja leider Corona.

TOUR: Hat Paris-Roubaix diese Bedeutung, weil es eine Legende ist und es nun auch ein Frauenrennen gibt, oder ist es das Rennen selbst, das Ihnen liegt?

Brennauer: Es ist der erste Aspekt - wie auch bei der Tour de France. Dass diese Rennen so eine Bedeutung haben, so eine Tradition, macht sie zu etwas Besonderem. Sie sind aus dem Radsport nicht wegzudenken. Da geht es männlichen und weiblichen Nachwuchssportlern gleich: Man denkt da­rüber nach, was es bedeuten würde, dort teilzunehmen oder sogar zu gewinnen. Deshalb wollte ich da unbedingt gut sein (sie wurde Vierte bei der Erstaustragung).

TOUR: Könnte der Frauenradsport durch die zunehmende Professionalisierung etwas verlieren? Das Nahbare für Zuschauer zum Beispiel?

Brennauer: Vielleicht geht so was ein bisschen verloren, aber trotzdem empfinde ich die Entwicklung als sehr positiv - und vor allem sind noch riesige Schritte zu gehen. Wir sind in einer Phase, in der es wächst und wächst. Nur müssen jetzt auch die Strukturen mitwachsen. Der Kalender wird immer voller, die Teams haben aber nicht mehr Fahrerinnen, um alles bewältigen zu können. Männerteams haben 30 Fahrer, wir 12 bis 16 Fahrerinnen. Auch das Drumherum, Betreuer, Physiotherapeuten, Mechaniker, muss mitwachsen. Es ist spannend, was die nächsten Jahre passiert.

TOUR: Sie möchten beruflich gerne mit dem Sport verbunden bleiben. Ganz gleich, ob das nun realistisch ist - welcher dieser Jobs würde Sie reizen: Bundestrainerin, Sportliche Leiterin eines Teams, Renndirektorin oder Mentalcoach?

Brennauer: (überlegt länger) Schwierig, ich glaube, Mentalcoach oder Bundestrainerin. Weil ich denke, dass ich einen guten Draht zu Leuten habe. Als Bundestrainerin könnte man Leute für etwas motivieren, aus einer zusammengewürfelten Gruppe eine Einheit bilden und das Beste aus ihnen herausholen. Das findet sich auch im Mentalcoach wieder. Meine Berufswünsche früher gingen immer in die Richtung: Lehrer, Physiotherapie oder Osteopathie - also in irgendeiner Form Leute zu unterstützen. Ich habe eine Heilpraktiker-Ausbildung angefangen, weil ich eigentlich Osteopathin werden wollte. Die habe ich noch nicht abgeschlossen, aber das läuft noch.

TOUR: Im Bund Deutscher Radfahrer gibt es derzeit keine Frau in einer Schlüsselposition. BDR-Leistungssportdirektor Patrick Moster hat sich in Bezug auf einen Bundestrainer-Job für Sie bereits positiv geäußert.

Brennauer: Das habe ich auch gelesen. Fakt ist, dass ich noch nicht genau weiß, wie es weitergeht. Da müssen erst Gespräche mit der Bundeswehr stattfinden, ich bin ja seit letztem Jahr Berufssoldatin, ich bin Beamtin, lebenslang verpflichtet.

TOUR: Ginge das zusammen mit einer Funktion im Sport?

Brennauer: Das geht, aber es muss eine Bundesaufgabe sein. Daher kann ich nicht sagen, ich möchte jetzt zum Beispiel als Sportliche Leiterin bei Ceratizit arbeiten. Ich kann innerhalb der Bundeswehr aber auch anderes machen - zum Beispiel eine Sportfördergruppe leiten oder als Sportfeldwebel arbeiten. Das ist eine Art Sportlehrer in der Bundeswehr für Soldaten, die gerade einen Lehrgang machen.

TOUR: Was werden Sie nach Ihrer Karriere am meisten vermissen?

Brennauer: (überlegt) Das werde ich erst noch merken. Sicher solche Momente (sie deutet auf das Bild von der Siegerehrung des EM-Bahnvierers), in denen man gemeinsam feiert und genießt, was man zusammen erreicht hat.

TOUR: Also steht der gemeinsame Erfolg im Rückblick über dem eigenen Erfolg?

Brennauer: Ja, weil Freude immer nur zählt, wenn man sie teilen kann. Klar kann ich, was ich alleine erreicht habe, auch mit Leuten teilen. Aber was heißt schon alleine erreicht? Da saß ich zwar alleine auf dem Rad, aber das habe ich doch nicht alleine erreicht! Da sitzt jemand im Auto, der mich per Funk über den Kurs leitet. Da hat jemand mein Fahrrad bestmöglich hergerichtet. Da hat mich ein Physiotherapeut behandelt, haben Wochen und Monate so viele Leute und Trainer mich vorbereitet.

TOUR: War Ihnen das immer bewusst, dass das ein Privileg ist?

Brennauer: Ja, ich habe das immer wertgeschätzt, aber rückblickend ist es mir noch bewusster geworden. Mit welcher Leidenschaft andere Leute versuchen, dir eine Plattform zu schaffen, damit du deine Top-Leistung abrufen kannst. Ich meine die Physiotherapeuten, die dir deine Wäsche hinterhertragen, deine Trinkflasche fertigmachen, und du kommst runter, setzt deinen Helm auf und steigst nur aufs Rad. Du musst nicht mal einen Reifen aufpumpen. Auch welchen Teil ein Trainer einnimmt in so einem Konstrukt, ich hatte jeden Tag Kontakt zu ihm. Jetzt habe ich zwei Tage schon nicht mit ihm telefoniert.

TOUR: Vielleicht können Sie ihn ja noch mal anrufen fürs Abtrainieren. Wie funk­tioniert das eigentlich?

Brennauer: Keine Ahnung. Damit habe ich mich null beschäftigt. Aber da werde ich ihn sicher anrufen (lacht).

TOUR: Sie haben mal gesagt, dass Sie all die Strapazen, das tägliche Training nur für das Gefühl des Gewinnens auf sich nehmen. Was ersetzt dieses Gefühl jetzt?

Brennauer: Das weiß ich auch noch nicht. Jetzt muss es neue Ziele geben. Wie geht man damit um? Bis jetzt mussten sich alle immer nach mir richten, meine Freunde, Familie. Aber gleichzeitig mochte ich das auch nicht so gerne. Mein ganzes Leben hat sich immer um den Radsport gedreht. Der Wecker klingelt, und man überlegt: Was frühstücke ich heute, dass es fürs Training gut ist? Ich habe Reis gegessen, morgens um acht Uhr vor dem Start von Straßenrennen. Ich muss erst mal rausfinden, was ich eigentlich wirklich gerne esse, ohne darüber nachzudenken, was es bringt. Ich werde nie wieder Reis essen um acht Uhr!

Es wird immer schneller. Bei den Rädern selbst und allen Komponenten, die zum Rennradfahren gehören. Ein Überblick über das weite Feld der Aerodynamik.

Keirin-Welt- und Europameisterin Lea Sophie Friedrich ist mit einem dritten Platz in ihrer Spezialdisziplin als bestes Ergebnis in die neue Saison der UCI Track Champions League gestartet. Die Cottbuserin liegt nach der ersten von fünf Runden in Palma de Mallorca nach Platz neun im Sprint in der Gesamtwertung mit 22 Punkten auf Rang vier.

Anton Palzer spricht im TOUR-Interview über neue Erfahrungen als Radprofi beim Team Bora-Hansgrohe, den daraus entstandenen Dokumentarfilm und seine Ziele.

TOUR – Rennrad News, Test und mehr ist Teil der Delius Klasing Verlag GmbH